Bericht von Kan Naoto, ehemaliger Premierminister Japans in Berlin, Heinrich Böll Stiftung
Am 13.10.2015 stellte der ehemalige Premierminister Japans Kan Naoto seine Sicht der Geschehnisse vom 11.3. bis zum 16.3.2011 einer großen Zuhörerschaft dar. Er beschreibt den nicht funktionierenden Nachrichtenweg von der Tepco Zentrale zum Büro des Ministeriums.
Prof. Dr. Frank Rövekamp, der das Buch von Kan Naoto ins Deutsche übersetzt hat, schreibt in dem Artikel:
Der Premierminister und der Atomunfall:
Zur Bewertung des Krisenmanagements von Naoto Kan während der Fukushima Atomkatastrophe
OAI-WP_Premierminister-Atomunfall_Roevekamp (1)
Premierminister Naoto Kan – und es gibt keinen Grund für die Annahme, dass es bei jeder anderen Person in diesem Amt nicht genauso gewesen wäre – sah sich also mit der folgenden Lage konfrontiert: Auf der einen Seite geriet der Atomunfall zunehmend außer Kontrolle und drohte das gesamte Land in eine katastrophale und existenzbedrohende Krise zu stürzen. Zuverlässige Informationen gab es jedoch nicht. Die maßgeblichen Institutionen für die Unfallbekämpfung, der Betreiber des Atomkraftwerks TEPCO und die Atomaufsichtsbehörde NISA, waren ihren Aufgaben in dieser Situation wenig bis gar nicht gewachsen. Schließlich gab es weder Vorerfahrungen noch irgendein Drehbuch, wie in einer solchen Lage zu verfahren sei. Und die ganze Welt schaute zu.
2.2 Drei Schlüsselereignisse
Unter diesen Rahmenbedingungen sollen nun drei Schlüsselereignisse während der Krise herangezogen werden, die das Bild vom Krisenmanagement Naoto Kans besonders geprägt haben: Die Inspektionsreise von Kan in das Atomkraftwerk am frühen Morgen des 12. März; die Diskussion über die Zuführung von Meerwasser in einen der Reaktoren am späten Nachmittag des 12. März; die Reaktionen auf den von TEPCO möglicherweise angedachten vollständigen Rückzug aller Mitarbeiter aus der Atomanlage am 15. März .
28. Februar 2012, 18:26 Uhr
Untersuchungsbericht zu Fukushima-1
Panik, Verwirrung und Wutanfälle: Ein Untersuchungsbericht unabhängiger Experten zeigt, wie konfus die Kommunikation zwischen dem Fukushima-Betreiber und Japans Regierung war. Offenbar verhinderte erst das Eingreifen des damaligen Premiers Kan eine vollständige Evakuierung der Anlage – und damit noch schlimmere Folgen für das Land.
Die japanische Regierung hat nicht nur versucht, die Gefahr nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima-1 in der Öffentlichkeit herunterzuspielen. Insgeheim war die Unsicherheit und Verwirrung unter den Verantwortlichen im März 2011 sogar so groß, dass selbst die Evakuierung Tokios erwogen wurde.
TEPCO’s workers stand near the crippled TEPCO’s Fukushima Daiichi nuclear power plant ractor buildings in FukushimaBild vergrößern
Tepco-Mitarbeiter vor der zerstörten Atomanlage Fukushima-1. Nach der Katastrophe hatte der damalige japanische Premier Kan offenbar verhindert, dass das AKW vollständig evakuiert wurde. (Foto: REUTERS)
Das geht aus einem Bericht hervor, den ein unabhängiger japanischer Think-Tank diese Woche veröffentlichen wird, berichtet die New York Times.
Die Rebuild Japan Initiative Foundation (RJIF) hatte im September 2011 eine Kommission zur Untersuchung des Nuklearunfalls in Fukushima-Daiichi eingerichtet, die anders als die Untersuchungskommission der Regierung unabhängig sein sollte. Das Gremium bestand aus 30 Experten. Die Wissenschaftler, Anwälte und Journalisten befragten mehr als 300 Personen, die mit der Katastrophe zu tun hatten, darunter Regierungsbeamte und sogar den damaligen Premierminister Naoto Kan.
Ihr Bericht belegt nun, wie konfus und teilweise sogar widersprüchlich die Informationen waren, die zwischen der Regierung, insbesondere Premier Kan, und der Führung des AKW-Betreibers Tepco und der Leitung der Atomanlage ausgetauscht wurden.
ANZEIGE
So hatte der Direktor des beschädigten Kernkraftwerks, Masao Yoshida, der Regierung versichert, er könne die Situation in den Griff bekommen, wenn seine Leute auf dem Gelände bleiben dürften. Wie der RJIF-Gründer Yoichi Funabashi der New York Times erklärte, versuchte gleichzeitig Tepcos Präsident Masataka Shimizu jedoch Premier Kan zu überzeugen, dass die Anlage vollständig evakuiert werden müsse.
Bei der Diskussion der möglichen Folgen kamen die Politiker schließlich zu einem Worst-Case-Szenario, bei dem ohne die Kühlmaßnahmen in Fukushima-1 (Daiichi) noch mehr Mengen strahlenden Materials in die Atmosphäre gelangen würde. Dies hätte die Evakuierung der benachbarten AKW Fukushima-2 (Daini) und Tokai notwendig gemacht – und dann dort möglicherweise zu Kernschmelzen geführt. Am Ende dieser „dämonischen Kettenreaktion“, so warnte dem Bericht zufolge der Leiter des Kabinettssekretariats, Yukio Edano, „wäre es die logische Schlussfolgerung gewesen, dass wir auch Tokio selbst verlieren würden“.
Premier Kan war schließlich wutentbrannt in die Tokioter Tepco-Zentrale gestürmt und hatte die Geschäftsführung angebrüllt, ein Rückzug sei undenkbar.
Geradezu Panik war der Kommission zufolge im Kabinett ausgebrochen, als den Politikern bewusst wurde, dass sich noch mehr als 10.000 abgebrannte, aber noch immer radioaktive Brennelemente in kaum geschützten Abklingbecken neben den zerstörten Reaktorblöcken befanden. Erst fünf Tage nach dem Erdbeben am 11. März zeigten Luftbilder, dass die Becken noch mit Wasser gefüllt waren. Nach Funabashis Einschätzung habe man den schlimmsten Fall gerade noch vermieden. Der Öffentlichkeit habe die Regierung dies jedoch verheimlicht, um einer Panik vorzubeugen.
Doch nicht einmal die engsten Verbündeten wie die USA wurden über die beängstigendsten Einschätzungen informiert, sagte der frühere Redakteur der Tageszeitung Asahi Shimbun der New York Times – und bestätigte so die Vermutung amerikanischer Experten. Erst vom 22. März an fanden dann tägliche Treffen von Vertretern beider Länder statt.
Der Bericht sei von historischer Bedeutung, erklärt Funabashi auf der Homepage seiner Organisation. Das Ziel der Kommission sei, zukünftigen Generationen die Lehren aus der Katastrophe zu vermitteln. Außerdem werde eine unabhängige Untersuchung des Umgangs der Regierung mit der Katastrophe helfen, die Überwachung der Verantwortlichen zu verbessern. Dies sei „essentiell für die Entwicklung einer gesunden Demokratie“, so Funabashi.
Denn die Katastrophe von Fukushima beleuchte nicht nur eine Regierungskrise, an der Unternehmen sowie verschiedene Behörden beteiligt waren. Er weist auch auf etwas Besonderes hin, „das dem Denken japanischer Bürger innewohnt“. Denn die Japaner gelten als relativ unkritisch gegenüber ihrer jeweiligen Regierung, öffentlichen Widerstand gegen die Politik gibt es kaum. Auch unabhängige Untersuchungen wie die von RJIF finden selten statt.
Zwar hatte die Regierung eine eigene Fukushima-Kommission eingesetzt. Diese stellte im Dezember ihren Bericht vor. Auch dort wurden Tepco und die Regierung heftig kritisiert. Doch die Experten hatten Tepco in einem Punkt in Schutz genommen: Premier Kan habe die Ankündigung von Tepco, Fukushima-1 zu evakuieren, falsch verstanden. Das Unternehmen hätte nur einen Teil der Belegschaft in Sicherheit bringen wollen.
Das aktuelle Papier der RJIF dagegen, für das fast alle an der Krise beteiligten Beamten befragt wurden, sagt nun etwas anderes. „Seine (Kans) Entscheidung, bei Tepco hineinzustürmen und zu verlangen, (Fukushima-1) nicht aufzugeben, hat Japan gerettet“, stellt Funabashi klar.