Ein Augenschein im Katastrophengebiet – Unwirkliche Augenblicke in Fukushima

Ein Augenschein im Katastrophengebiet
Unwirkliche Augenblicke in Fukushima
Die japanische Regierung und die von ihr kontrollierte Tokyo Electric Power Co. tun sich schwer, in Fukushima die havarierten Reaktorblöcke zu entsorgen. Es fliesst kontaminiertes Wasser ins Meer.
  • von Patrick Welter, Fukushima
  • 16.10.2015, 17:52 Uhr
Fukushima WassertanksIn Fukushima stehen Tanks mit radioaktiv kontaminiertem Wasser dicht gedrängt auf dem Reaktorgelände. (Bild: Kimima Sa Mayama / EPA)

Um Platz für Wassertanks zu schaffen, ist auf dem Gelände des havarierten Kernkraftwerks Fukushima Daiichi ein Wäldchen abgeholzt worden, das Vögeln als Refugium diente. Die Kirschbäume an der Sakura-Strasse aber blieben erhalten. Schliesslich hätten Kirschbäume eine besondere kulturelle Bedeutung in Japan, erklärt ein Sprecher des Kraftwerkbetreibers Tokyo Electric Power (Tepco). Im neuen siebenstöckigen Betonbau, in dem die Arbeiter essen und sich erholen können, gibt es zum Strahlenschutz bis auf wenige Ausnahmen keine Fenster. Mit Stolz präsentiert Tepco in der Kantine Getränkeautomaten und Snacks, die für die Arbeiter seit August ein kleines Stück japanische Normalität bedeuten.

Mit Eis gegen Wasser kämpfen

Es sind diese unwirklich anmutenden Gegensätze, die dem Besucher des Unglücksreaktors ins Auge stechen. Vielleicht dreihundert Meter von den Reaktorruinen entfernt schneidet ein Arbeiter in Schutzkleidung mit einer grossen Heckenschere fein säuberlich das Gras von der Bordsteinkante. Und als ob es auf einer ganz normalen Strasse in Japan wäre, achten seine Kollegen darauf, dass vorbeifahrender Verkehr Abstand hält. Doch rollt an diesem frühen Nachmittag auf dieser Strasse fast gar kein Fahrzeug.

Im vierten Jahr nach dem Tsunami, der die Kühlsysteme in Fukushima Daiichi wegspülte und zur Kernschmelze in Reaktoren führte, ist das drängendste Problem in dem havarierten Kraftwerk immer noch das Wasser. Rund 300 t Grundwasser drücken täglich aus dem Abhang in die Reaktorgebäude und vermischen sich dort mit verstrahltem Kühlwasser, während an anderer Stelle leicht belastetes Wasser in den Ozean fliesst. 1000 Wassertanks zu je 1000 m³ hat Tepco auf dem Gelände errichtet; in ihnen ist verstrahltes Wasser gelagert, die Zahl der Tanks steigt und steigt.

Mit Verspätung steuert Tepco auf einige Meilensteine zu, um das Wassermanagement endlich in den Griff zu bekommen. Man habe in den vergangenen Monaten grosse Fortschritte gemacht, sagt Akira Ono, der Leiter des Kraftwerks. Vor den Olympischen Spielen 2020 sollte das Wasserproblem gelöst sein, meint er hoffnungsvoll. Im Dezember will Tepco den Boden rund um die Reaktorblöcke auf minus 30 Grad Celsius einfrieren, 30 Meter tief, auf einer Länge von 1500 Metern. Das soll verhindern, dass sich kaum belastetes Grundwasser mit verstrahltem Kühlwasser in den Reaktoren mischt. Fachleute beobachten aufmerksam, ob die in dieser Dimension einzigartige Operation reibungslos verlaufen wird. Frühere Tepco-Versuche, mit Eis Gräben auf dem Gelände abzuschotten, waren gescheitert.

Schon Ende Oktober soll am Hafenbecken eine undurchlässige Spundwand geschlossen werden, die das Kraftwerkgelände 30 Meter tief vom Pazifik abschottet. Damit will das Unternehmen erreichen, dass kein radioaktiv verstrahltes Wasser mehr aus dem Reaktor in den Pazifik dringen kann. Zugleich pumpt Tepco regelmässig Grundwasser rund um das Kraftwerk ab. Auch dieses Wasser wird auf dem Gelände gelagert.

Strontium, Cäsium, Tritium

Viel Aufmerksamkeit erregt in der japanischen Öffentlichkeit, was mit all dem verseuchten Wasser geschehen soll. Mehr als zwei Jahre verhandelte Tepco mit umliegenden Gemeinden und lokalen Fischern um die Zustimmung, Wasser in den Pazifik zu leiten. Die Fischer fürchten, dass die Skepsis der Verbraucher gegenüber ihrem Fang noch stärker zunehmen wird. Seit September nun gibt Tepco mit dem Plazet der Fischer regelmässig und kontrolliert Wasser in den Pazifik ab, bisher mehr als 7000 t. Dabei handelt es sich um Grundwasser, das abgepumpt wird, bevor es in den Reaktor eindringt. Nach der Reinigung der Filter sei dieses Wasser sauberer, als es die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation für Trinkwasser festlegten; Tepco verweist auch auf Messergebnisse externer Unternehmen.

Doch all das löst das Wasserproblem nur zum Teil. Völlig offen ist, was mit dem Wasser geschieht, das in den Reaktoren verstrahlt wurde und auf dem Gelände lagert, in Filteranlagen von Strontium und Cäsium und Nukliden gereinigt, aber noch mit Tritium belastet. Bis Ende März 2016 sollen dafür 800 000 t Lagerkapazität zur Verfügung stehen. Regierung und Tepco wissen nicht, wie sie mit diesem Wasser umgehen sollen. Manche Fachleute halten es für unvermeidlich, auch dieses Wasser verdünnt in den Ozean abzulassen.

Der Fortgang der Arbeiten in Fukushima Daiichi zeigt sich in den Farben. In japanisch-typischem Beige stehen auf dem Kraftwerkgelände alte Bürogebäude mit Fenstern leer, während rund 800 Tepco-Angestellte im Grau eines flachen Sichtbetonbaus ohne Fenster arbeiten. Wassertanks, die nach dem Unglück schnell aufgestellt wurden und oft rostig sind, weichen nun verschweissten Tanks in Blau (Toshiba), Beige (IHI) oder Grau (Mitsubishi). Tepco will mit den besseren Tanks Lecks vorbeugen.

Skurrile Messresultate

Am kleinen Hafen des Reaktorgeländes fliesst aus einem grossen Rohr Wasser in das abgeschirmte Becken. Es stammt laut Tepco aus Drainageleitungen, die Oberflächenwasser abführen. Neunmal sei dieses Jahr nach heftigen Regenfällen das Entwässerungssystem überlastet worden und «leicht verunreinigtes» Wasser unkontrolliert in den Pazifik geflossen, sagt eine Sprecherin. Bis März 2016 soll das Drainagesystem umgebaut sein, um solche Zwischenfälle zu verhindern. Tepco schiebt in den Vordergrund, dass ausserhalb des Hafenbeckens keine erhöhte Strahlung gemessen wurde. Abgesehen vom Problem mit verseuchtem Wasser weiss Tepco nicht, wie der wohl geschmolzene Brennstoff aus den Reaktoren 1 bis 3 entfernt werden soll. Der Abbau der Reaktoren ist auf 30 bis 40 Jahre angesetzt.

Nach jahrelanger Stilllegung beginnt Japan wieder mit der zivilen Nutzung der Kernkraft. Am Donnerstag schaltete Kyushu Electric Power im Süden des Landes im Kraftwerk Sendai den landesweit zweiten Reaktor wieder an. Weitere Reaktoren stehen vor der Freigabe durch die Aufsichtsbehörden, nachdem sie verschärfte Sicherheitsvorschriften erfüllt haben. Der nächste Atommeiler wird wohl 2016 ans Netz gehen.

Ein letzter fast unwirklicher Moment beschliesst die Besichtigung von Fukushima im «J-Village», dem früheren Trainingszentrum der Fussballnationalmannschaft, 20 km südlich des havarierten Kraftwerks. Am gläsernen Eingang des Haupthauses strahlt neben Bildern des Samurai-Teams ein Adidas-Werbespruch: «Nichts ist unmöglich», wird verkündet. In einem Zeltbau im J-Village erfährt der Reporter als Ergebnis der Kontrollen, seine radioaktive innere Belastung sei vor der Besichtigung von Fukushima Daiichi grösser gewesen als nachher. Die Werte könnten schwanken, meint eine Tepco-Sprecherin. Es sei möglich, dass es während der Tour keine innere Belastung gegeben habe.

Spektakulärer Tepco-Absturz

Die 1951 gegründete Tokyo Electric Power Co. (Tepco) brach nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima unter ihren Schuldenlasten zusammen. Der Regierung blieb nichts anderes übrig, als die einst so stolze Tepco wegen ihrer Rolle als exklusiver Lieferant von Elektrizität im Grossraum Tokio zu retten. Es waren ausserdem, auch im Ausland, Bonds im Gegenwert von rund 100 Mrd. $ ausstehend. Vor dem Tohoku-Erdbeben im März 2011 erwirtschaftete Tepco Jahresumsätze von umgerechnet 12 Mrd. $; im vergangenen Jahr waren es noch 6800 Mrd. Yen (5,5 Mrd. $).

Nur dank kräftigen Preiserhöhungen und Staatszuschüssen gelang es in den letzten zwei Jahren, die noch 43 000 Mitarbeiter beschäftigende Tepco zu stabilisieren. Von einer Gesundung kann keineswegs gesprochen werden, denn die Nuklearruine Fukushima Daiichi wird noch über Jahrzehnte Kosten verursachen; bis anhin wurden umgerechnet fast 40 Mrd. $. an Geschädigte ausbezahlt, was weit unter den Ansprüchen liegt. Tepco steht für den grössten Firmenkollaps Japans in der Nachkriegszeit. Deren AKW (das grösste davon in Niigata) stehen still; thermische Werke (44 000 MW) und Wasserkraft (10 000 MW) füllen die Lücke. Die Tepco-Aktie hat sich auf rund 840 Yen erholt, doch hinter die rechnerische Börsenkapitalisierung von 1350 Mrd. Yen sind grosse Fragezeichen zu setzen.