Fünf Jahre nach dem Tsunami Harziger Wiederaufbau im Nordosten Japans

Sendai, Iwanuma, Ishinomaki, Rikuzentakata – das sind alles japanische Städte, die am 11. März 2011 vom Tsunami hart getroffen wurden. Der Wiederaufbau kommt nur zögerlich voran.
  • von Patrick Welter, Sendai
  • 11.3.2016, 06:00 Uhr

«Vor fünf Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich jetzt in Sendai leben und ein Geschäft haben würde», sagt Fumihiko Tsuda. Er habe gedacht, das werde mindestens zehn Jahre dauern. Der nachdenkliche Kleinunternehmer, der gerne und viel lacht, sitzt in seinem schlichten Einzelhandelsgeschäft in einem Wohnviertel Sendais. Auf Tischen und in Regalen sind die Waren ordentlich aufgereiht. Algen in allen Varianten, Fisch, Fischsuppen und Leckereien rund um das Meer bietet Tsuda an. Der Grossteil der Waren stammt aus Tsudas Heimatstadt, Ishinomaki, die am 11. März 2011 von dem Tsunami an der Pazifikküste grossflächig zerstört wurde.

Das Herz hängt am Alten

Die Tsuda-Familie kam noch glimpflich davon. Die Eltern, die vier Kinder und die Grossmutter überlebten. Das Lagerhaus und die Geschäftsräume des Unternehmens in Ishinomaki wurden verwüstet, doch das zweite Stockwerk blieb bewohnbar. Der heute 53 Jahre alte Tsuda zog schnell auf eigene Kosten in die Millionenstadt Sendai, damit die Kinder in die Schule gehen konnten. In Ishinomaki war nicht abzusehen, wann Schulen wieder öffneten. Seither pendelt er zwischen den beiden Städten. Vor dem Tsunami hatte Tsuda dreizehn Mitarbeiter, die Bento-Boxen und Algenpaste herstellten und auch andere Algenprodukte verkauften. Noch im Herbst 2011 begann er in Ishinomaki mit drei Mitarbeitern, Algen zu verpacken und an Einzelhändler weiterzuverkaufen. Das Einzelhandelsgeschäft in Sendai eröffnete er 2012. Über der Eingangstür hängt das hölzerne Firmenschild aus Ishinomaki, das Nachbarn in den Trümmern wiederfanden.

An diesem Freitag gedenkt Japan der rund 19 000 Menschen, die bei dem Tsunami vor fünf Jahren im Nordosten Japans starben oder seither vermisst werden. Für die Regierung ist der Jahrestag Beginn einer zweiten Phase des Wiederaufbaus und der Revitalisierung. In der ersten Phase hatte sie 25,5 Bio. Yen (225 Mrd. Fr.) bereitgestellt. Für die nächsten fünf Jahre sind nochmals 6,5 Bio. Yen geplant. Doch nach fünf Jahren leben in den Präfekturen Fukushima, Miyagi und Iwate immer noch 180 000 Menschen als Flüchtlinge, 60 000 davon in temporären Containern. Öffentlicher und privater Wohnungsbau hinken dem Bedarf hinterher.

In Fukushima und Iwate schrumpft die Bevölkerung weit stärker als in anderen Landesteilen. Viele Menschen wandern ab. Eine Reise in die Tsunami-Gebiete verdeutlicht, wie unterschiedlich sich nach fünf Jahren der Wiederaufbau entwickelt und wie er in vielen Orten noch stockt.

In Iwanuma, südlich von Sendai, ist von Krisenstimmung nicht mehr viel zu spüren. Am Meer in der Nähe des Flughafens Sendai sind neue Dämme nahezu fertig. Menschen dürfen dort nicht mehr wohnen. Dennoch wurden künstliche Hügel aufgeschüttet, ein Zufluchtsort bei künftigen Flutkatastrophen. Von den Hügeln blickt man auf geräumtes Land. Eine Privatinitiative versucht, in der Leere ein halbzerstörtes japanisches Haus als Denkmal zu erhalten.

Der Bürgermeister von Iwanuma, Hiroo Kikuchi, spricht davon, Unternehmen anzusiedeln und junge Familien anzulocken. Er klingt wie jedes Stadtoberhaupt überall auf der Welt. Eine Strasse sei noch neu zu bauen und einige andere Dinge. Im Grossen und Ganzen sei der Wiederaufbau erledigt, sagt Kikuchi. Besonders stolz ist man in Iwanuma, dass Gemeinschaften, die von Meeresnähe in neue Wohnviertel ins Landesinnere zogen, als Gruppe umsiedelten. Probleme der Vereinsamung in den provisorischen Wohnungen hat die Stadt so im Gegensatz zu vielen anderen Kommunen vermieden. Es habe keine Selbstmorde in Iwanuma gegeben, sagt der 63 Jahre alte Kikuchi. Drei alte Frauen sitzen am späten Nachmittag in einem Neubaugebiet an einem öffentlichen Platz und plaudern. Zwei Kinder spielen auf einem Spielplatz. Die Häuser, die öffentlichen Grünanlagen – alles sieht noch nagelneu und steril aus.

In der Stadt Ishinomaki, die von dem Tsunami besonders hart getroffen wurde, geht es erheblich langsamer voran. Im Stadtzentrum an der Flussmündung, das völlig überschwemmt war, sind viele Grundstücke geräumt und nicht mehr bebaut. Auch die höher gelegenen Einkaufsstrassen sind vielfach verwaist. «Das vergangene Jahr war für uns das erste Jahr des Wiederaufbaus», sagt Hiroyuki Takeuchi. Zur Zeit des Tsunamis war er leitender Redakteur der Lokalzeitung, seit 2012 leitet er für diese das kleine Newsee-Museum, das an die Katastrophe erinnert. Es fehle an einer starken Führung im Rathaus, klagt Takeuchi über den langsamen Wiederaufbau. Diese Meinung ist in Ishinomaki oft zu hören.

Die Baukosten steigen und nicht nur, weil an der Küste überall neu gebaut wird. Die durch die expansive Geldpolitik der Abenomics angefachte Hochkonjunktur in der Bauwirtschaft zieht Ressourcen aus dem Nordosten ab. Bauunternehmen können wählen, ob sie sich im Wiederaufbau um wenig lukrative öffentliche Aufträge bewerben oder anderswo mehr Geld verdienen. In der Stadtverwaltung von Ishinomaki heisst es, dass Bauunternehmen teilweise 50% mehr Geld forderten, bevor sie einen öffentlichen Auftrag annähmen.

Traum verblichener Grösse

Schon vor der Katastrophe litt die Stadt darunter, dass junge Leute wegzogen. Der Tsunami hat das Problem der schrumpfenden Bevölkerung nur verschärft. Mit der Katastrophe fiel die Bevölkerungszahl in einem Jahr um 10 000 auf 153 000. Rund 3600 Menschen starben oder werden vermisst, rund 6400 Menschen zogen aus Ishinomaki fort. Allein 20 000 Arbeitsplätze seien in der Fischereiwirtschaft verloren gegangen, sagt Takeuchi. In vielen der betroffenen Städte sind heute aber nicht nur Bauarbeiter knapp. Auch in Fischereibetrieben oder in der Gastronomie finden sich offene Stellen. In Ishinomaki leben heute noch 6000 Menschen in Notunterkünften. Die Stadtverwaltung wirkt in manchem sympathisch unbedarft. Gegen den Bevölkerungsschwund organisierte sie im Januar erstmals ein Treffen von Heiratswilligen, bei dem Landwirte Frauen kennenlernen sollten. 19 Frauen kamen, am Schluss gab es 6 Paare, die vielleicht heiraten werden. Medizinstudenten und Pflegekräften will man Teile der Studienkredite erlassen, wenn sie sich in Ishinomaki niederlassen.

Als Zeichen der Erholung verweist Takeuchi auf den neuen Fischmarkt, der mit einer Länge von 880 Metern zu den grössten der Welt gehöre. Der alte Fischmarkt, so heisst es, sei der grösste Asiens gewesen. Ishinomaki müsse auch in anderen Bereichen Nummer eins werden, sagt der 58 Jahre alte frühere Journalist. Mehr noch aber setzt er seine Hoffnung auf junge Menschen, die nach dem Tsunami als Helfer kamen und hängenblieben.

Eine davon ist Nao Tokutake. Auf einem Grundstück mit behelfsmässig eingerichteten Imbissbuden lacht Tokutake aus einem kleinen Wohnwagen, der zur Küche umgebaut ist. Davor stehen ein paar Stühle und Tische. Die 29-Jährige kam aus Okinawa nach Ishinomaki, um zu helfen. Seit einem Jahr versucht sie sich als Unternehmerin mit einem Café. Im Sommer verdiene sie ganz gut mit Touristen, berichtet Tokutake. Jetzt am Jahresbeginn sei das Geschäft eher flau. Wenn der Staat sich einmische, dauere es lange, sagt Tokutake und lobt die vielen Privatinitiativen.

Konditorei mit Tradition

In Rikuzentakata im Süden der Präfektur Iwate sagt selbst Bürgermeister Futoshi Toba, dass der Wiederaufbau hätte schneller vorankommen können. Das Fischereistädtchen wurde im Ausland vielfach zum Symbol der Zerstörung. 4000 oder gut die Hälfte aller Häuser wurden weggespült. 1800 Menschen von 23 300 Einwohnern verloren ihr Leben. Toba kritisiert und erklärt die Verzögerungen im Wiederaufbau damit, dass japanische Gesetze aufs Strengste eingehalten wurden. So dauerte es Monate, bis Neubaugebiete zugelassen wurden. März 2019 nennt der Bürgermeister als Datum für das Ende des Wiederaufbaus. Vom provisorischen Rathaus im Containerstil sieht man auf frischen Baugrund. Eine Bergkuppe wurde abgetragen, um weit erhöht vom Meeresspiegel Platz für 93 neue Wohnhäuser zu schaffen. Zum Meer hin steht eine 12,5 Meter hohe Schutzmauer, wo vor der Katastrophe Zehntausende von Pinien einen Sandstrand einrahmten. Eine «Wunder-Pinie», die als einzige den Tsunami überlebte und erst später an zu viel Salzwasser zugrunde ging, wird als Touristenattraktion erhalten. «Wir sind keine Fans von einer zu grossen Mauer», sagt der 51 Jahre alte Toba, der kurz vor der Flutkatastrophe ins Amt gewählt worden war. Aber wenn man bedenke, dass beim Tsunami 1800 Menschen ums Leben kamen, könne man sich nicht damit aufhalten, über die Schönheit der Landschaft zu sprechen.

Vor der Mauer sieht das ehemalige Stadtzentrum noch aus wie eine Mondlandschaft. Laster bewegen Erde, um Teile des Gebiets um 7 Meter oder mehr aufzuschütten. Menschen sollen dort wieder wohnen, und es soll eine geschäftige neue Innenstadt entstehen. Vor der Katastrophe konnte man für 20 Mio. Yen (176 000 Fr.) ein Haus bauen, heute koste es 25 Mio. Yen, sagt Toba. Bis zu 3 Mio. Yen schiesse der Staat zu. Doch ein Neubau sei oft immer noch zu teuer, wenn unverändert die Hypothek vom alten Haus drücke.

Eiki Kumagai möchte lieber heute als morgen neu bauen. Nach fast fünf Jahren in einem Container hat er genug. Daran gewöhne man sich nicht, sagt der 48 Jahre alte Familienvater mit zwei Kindern. Im Herbst kann er mit dem Neubau des Wohnhauses beginnen. Ein Grundstück im Stadtzentrum hat er gegen höher liegenden Grund getauscht. Auch seine Izakaya-Kneipe muss umziehen. Das Problem aber ist: In der Innenstadt, wo er die Kneipe wieder errichten möchte, ist ihm noch kein neues Grundstück zugewiesen worden. Während er Speisen für den Abend vorbereitet, berichtet Kumagai, dass er überlege, ob er öffentliche Finanzhilfe für den Wiederaufbau seiner Izakaya annehmen soll. «Wir müssen wieder unabhängig werden», sagt er.

Die Konditorei Kimura, die schon 2011 im Container neu eröffnet hatte, findet sich jetzt in einem schmucken und deutlich grösseren Geschäftslokal vor dem Rathaus. Immer noch bietet das 90 Jahre alte Traditionsgeschäft eine der Hausspezialitäten, den Baumkuchen, an. Umsatz und Gewinn hätten sich mit dem Umzug deutlich verbessert, berichtet Juniorchef Yohei Kimura. 75% des Neubaus wurden subventioniert. Man habe nicht mehr warten können, bis das neue Stadtzentrum baufertig sei, merkt der 30-Jährige an. Der Tsunami hat das Leben des jungen Kimura stark verändert. Nach der Schule zog es ihn nach Tokio, wo er Musik und Kunst studierte und als Marketingmanager in der Musikindustrie unter anderem Fanklubs organisierte. 2012 kehrte er nach dem Tsunami in die Heimatstadt zurück.

Wie Kimura will auch Izakaya-Chef Kumagai die Stadt nicht verlassen, er will seinen Kindern den Wiederaufbau zeigen. Er hat aber keine Illusionen, was die Zukunft der alternden Stadt angeht. Wenn in einigen Jahren die Bauarbeiter verschwunden seien, beginne der richtige Kampf, sagt Kumagai. Auch Tsuda, der in Sendai sein Geschäft aufbaut, macht sich Sorgen über die Zukunft. In den ersten Jahren nach der Katastrophe profitierte sein Geschäft noch von solidarischen Kunden, weil in Tokio Firmen Produkte aus den Tsunami-Gebieten besonders beworben hatten.